Schulen als Orte der Digitalisierung: Ein Interview mit Philippe Wampfler, einem Schweizer Experten fürs Lernen mit neuen Medien.
Philippe Wampfler ist Lehrer, Fachdidaktiker und Kulturwissenschaftler. Der Experte beobachtet die neuen Medien, welche grosses Potenzial bergen, und den Umgang mit ihnen.
Herr Wampfler, Sie beschäftigen sich täglich mit Social Media – privat und beruflich. Merken Sie, wie die Digitalisierung den Unterricht verändert?
Das kommt stark auf die Schulstufe an. In der Primarschule ist es eher eine Begleitung und die Sozialisierung beruht noch auf der analogen Ebene, obwohl Kinder gerne chatten oder «gamen». Dementsprechend verläuft die Kommunikation anders. Ab der 3. oder 4. Klasse gibt es interne Gruppenchats und das sind Dinge, die den Unterricht beeinflussen können.
Und je älter die Schüler werden, desto häufiger werden die klassischen Unterrichtsmedien von elektronischen abgelöst. Die Verwendung variiert und reicht von kleinen Gadgets bis zu grösseren Anschaffungen. Dadurch werden neue Möglichkeiten wie das Arbeiten an einem Blog eröffnet. Vieles wird durch die Geräte niederschwelliger und mit den Smartphones hat mittlerweile jeder Schüler ein leistungsfähiges Modul in den Händen.
Abgesehen von den Smartphones: Welche elektronischen Hilfsmittel werden in den Klassenzimmern von heute verwendet?
In den meisten Klassenzimmern gibt es einen Beamer oder sogar ein interaktives Whiteboard. Natürlich gibt es Mischformen wie demokratisierte Beamer, auf die alle mit ihren Tablets zugreifen können und über die die Klasse gemeinsam eine Aufgabe löst.
Dann funktioniert der Unterricht primär als gemeinschaftliches Erlebnis und nicht mehr als das «An-den-Pranger-Stellen»?
Die Lernenden sind nicht so exponiert und können das zeigen, was sie erarbeitet haben. Das kann sehr förderlich sein und der zwischenmenschliche Austausch wird gestärkt. Man lernt von- und miteinander. Dadurch wird dem ausserschulischen Lernen Rechnung getragen. Vieles wird schliesslich von MitschülerInnen und Nachhilfen erklärt.
Um ein einzelnes Klassenzimmer aufzurüsten, würden doch entsprechende Kosten anfallen…?
Sicher. Dafür fallen andere Kosten für die vielen und teilweise teuren Bücher weg. Infrage gestellt werden dadurch natürlich die Lehrmittelverlage, die darauf zählen, dass die Lehrmittel jahrelang verkauft werden.
Schwenken die Verlage schon um?
Das geht natürlich nicht innerhalb von wenigen Tagen. Momentan versuchen sie, Zusatzangebote zu kreieren. Ganz auf eine digitale Umgebung setzen in der Schweiz aber wenige, weil das mit einem entsprechenden Kostenaufwand verbunden ist. Zudem sehen die Verlage noch nicht, wo Ertrag generiert werden kann. In Deutschland sind die Hemmungen grösser und die Verlage wehren sich gegen diese zunehmende Digitalisierung.
Und wie steht’s mit dem «bring your own device»-Prinzip?
In den Gymnasien wird sich das in den nächsten zehn Jahren durchsetzen. Es ist eine der besten Lösungen, sobald Kinder und Jugendliche mit den Devices selbständig umgehen können. Bei den jüngeren kommt es auf die Umstände an. Es gibt bereits Erfahrungswerte, wie zwischen privatem und schulischem Lernen Brücken geschlagen werden können. Vielfach braucht es Hilfestellungen oder sogar eine einheitliche elektronische Umgebung.
Geräte alleine reichen natürlich nicht aus. Wie werden Internet und Social Media in Unterrichtseinheiten eingebunden?
Dazu gibt es didaktische Modelle. Wenn es um sprachliche Handlungen geht, gibt es vieles, das in Social Media funktioniert. Ein Durchspielen macht es möglich, zu verstehen, wie alles wirkt. Für das sprachliche Lernen ist diese Taktik hilfreich und motivierend. Der Aufbau der Sprachkompetenz ist wichtig und für Kinder und Jugendliche ist es bedeutend, sich im Netz witzig zu präsentieren. Wer diese Fähigkeit nicht beherrscht, verliert den sozialen Anschluss.
Ein weiterer Aspekt ist die Zugänglichkeit zu Fachleuten. Die Lernenden bekommen Feedback, können mit Profis in Kontakt treten und auf diese Weise «ausserhalb» des Schulzimmers lernen.
Wer nimmt neue digitale Arbeitsformen eher an: die SchülerInnen oder die LehrerInnen?
Für SchülerInnen gehört das zum Privatleben. Und die Lehrpersonen leben ebenfalls in einem digitalen Alltag. Zukünftige Lehrpersonen orientieren sich meistens an ihren eigenen Bildungserfahrungen und deswegen ist dieses System träge. Veränderungen wie die Digitalisierung des Unterrichts brauchen Zeit.
Digitale Medien sind in meinen Augen etwas Wertvolles und bieten einen ganz neuen Kulturzugang. Für Kinder und Jugendliche ist die Bildkomponente essenziell (Snapchat, Instagram). Tiefgründige Bildkommunikation, die lange unterdrückt wurde, wird möglich. Die Digitalisierung und Smartphones bringen diese Strömung nun zum Durchbruch.
Diese Entwicklung gilt es, im Auge zu behalten. Denn die heutigen Jugendlichen werden erwachsen und prägen schliesslich eine neue Arbeitswelt.
Das heisst, dass die Lehrerinnen und Lehrer primär alles ausprobieren sollten?
Genau, aber dabei geht es vor allem um offene Gespräche. Die Lehrperson sollte hauptsächlich mit der Klasse über Phänomene wie «Pokémon Go» sprechen und Fragen stellen. Aber sicher nicht von vorneherein sagen, es sei ein absoluter Quatsch. Offenheit ist das A und O.
Konnten Sie bereits feststellen, dass Unterrichtseinheiten durch die Digitalisierung schwieriger geworden sind?
Die traditionelle Konzentration dürfte ein Punkt sein. Dabei werden die Lernenden nur einem einzigen Reiz ausgesetzt wie einem langen Text oder halbstündigen Referat. Es wird sicher schwieriger, weil die Jugendlichen daran gewöhnt sind, mehrere Reize zur gleichen Zeit aufzunehmen. Hinzu kommt das Belohnungssystem der sozialen Medien, bei denen alles genau getaktet ist. So schnell funktioniert die Schule nicht: Frequenzen sind länger und die Rhythmen unterscheiden sich frappant vom Alltag. Das wiederum macht die herkömmliche Art der Wissensvermittlung eher schwieriger.
Chancen bestehen aber in der neuen Art der Konzentration, darin, dass sich Sachen verändern.
Zeit ist relativ…
Jawohl, und das erleben beide Parteien als störend. Beispielsweise werden Vorbereitungen durch die Vermischung von Privatem und Schulischem viel länger. Die Work-Life-Balance steht dabei im Mittelpunkt und trägt zum Gefühl der Schülerinnen und Schüler bei, nie fertig zu sein.
Wäre das schlussendlich wieder etwas, das in der Schule beigebracht werden muss?
Auf alle Fälle sollte die Reflexion angeregt werden, auch wenn die Strategien sehr individuell ausfallen werden. Es basiert auf dem Konzept «Infotention»: also wieviel Attention verdienen Informationen. Um sich in der Medienwelt eloquent zu bewegen, braucht es Übung.
Man mag vielleicht schon von einem Aussterben des Analogen sprechen. Werden gewisse Dinge im Unterricht mittelfristig analog bleiben?
Gespräche. Da würde wohl kaum jemand behaupten, dass das digital besser funktioniert. Eine Lehrperson soll zusätzlich für Schülerinnen und Schüler digital erreichbar sein, weil es durchaus Dinge gibt, die sie vielleicht nicht so leicht formulieren oder ausdrücken können. Auch für den gemeinsamen Sport, Bewegung oder Arbeiten mit den Händen gibt es keine digitalen Äquivalente.
Apropos Handarbeit: Wie verhält es sich mit der Handschrift?
Da ist man gespaltener Meinung. Es heisst, dass durch die Handschrift im Gehirn gewisse Strukturen aufgebaut und aktiviert werden. Selten werden Kinder so feinmotorisch gefördert, wie im Schreibunterricht der ersten Klasse. Ein aufwändiges Unterfangen, weswegen einige Schulen in Skandinavien bereits aufgehört haben, Schreiben zu lernen.
Mit den neuen Tablets spielt es aber auch nicht eine so grosse Rolle, ob man die Notizen handschriftlich oder gleich mit dem Gerät macht. Denn die meisten haben seit einiger Zeit Handschriftenerkennung und können Texte durchsuchen.
Wie weit fortgeschritten sind die Schweizer Schulen bei der Digitalisierung Ihrer Einschätzung nach?
Im internationalen Vergleich sind skandinavische Schulen weiter, aber gegenüber Österreich und Deutschland stehen wir gut da. Das beruht auf der guten Infrastruktur und der Aufgeschlossenheit gegenüber digitalen Medien. Um noch einen Schritt nach vorne zu machen, müssen verschiedene Schaltstellen übereinstimmen zum Beispiel in der Prüfungsform, den Lehrmittelverlagen etc. Das Hauptproblem ist noch, dass Schule als etwas Analoges angesehen wird.
Kurzbiographie: Philippe Wampfler
Philippe Wampfler ist Lehrer, Fachdidaktiker, Kulturwissenschaftler und Experte fürs Lernen mit Neuen Medien. Er gehört ausserdem zu den einflussreichsten Akteuren der Schweizer Social-Media-Landschaft. Wampfler wohnt mit seiner Ehefrau und drei Kindern in Zürich.
BRACK.CH Business unterstützt Schulen, Behörden, Institutionen und Unternehmen bei allen Beschaffungsfragen rund um die Digitalisierung, bei «bring your own device» und der Einführung elektronischer Hilfsmittel in Schulungs- und Sitzungsräumen.